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Die pensionierte Domina
Text: Simone Lippuner
Die Männer nannten sie «Herrscherin»: Als Lady Xena erfüllte Gerda Ricci die perversesten Fantasien ihrer Kunden.
Die roten Fingernägel sind das Einzige, was Gerda Ricci aus ihrem Leben als Xena geblieben ist. Ihre Krallen, wie sie sie nennt. Als sie jünger war, grub sie die langen Nägel in die Haut von Männern, die Schmerz mögen. Als Lady Xena empfing sie täglich Kunden in ihrem Salon in Biel. Alte, Junge, Banker, Akademiker, Studenten, Familienväter, Rentner gingen dort ein und aus. Fast ausschliesslich Männer. Ihre Leben hätten unterschiedlicher nicht sein können, doch eines verband sie: eine geheime Leidenschaft. Bei Domina Xena fanden diese Männer etwas, was im eigenen Umfeld nicht zugänglich war: Befriedigung.
Heute klammern sich Gerda Riccis Finger mit den rot lackierten Nägeln ans Treppengeländer, wenn sie die Stufen zu ihrer kleinen Wohnung in der Bieler Altstadt hochsteigt. Sie ist nicht mehr so gut zu Fuss. Ihr Lebensweg bis dahin war für die 67-Jährige steinig und steil, «aber dafür ehrlich», sagt Gerda Ricci. «Und darauf bin ich stolz.» Sie zieht an ihrer Zigarette und blickt einen mit ihren tiefblauen Augen lange und direkt an.
Erleuchtung in den Familienferien
Es war ein Befreiungsschlag, der nicht von heute auf morgen geschehen konnte. Zu entdecken, dass man an Gewaltfantasien Gefallen findet, ist eine Sache. Diesen Weg selber zu beschreiten, die andere. «Ich war Mitte 30, verheiratet und frustriert», erinnert sich Gerda Ricci.
In den Familienferien in Italien am Strand fällt der jungen Frau ein Buch von Marquis de Sade in die Hände. Die Texte des französischen Adligen, der durch seine gewaltpornografischen Romane bekannt wurde, lenkten Gerda Riccis Aufmerksamkeit auf ihre eigene düstere Seite. «Ich konnte mich komplett identifizieren mit den Fantasien dieser Klosterfrauen, mit der sexuellen Gewalt, den geheimen Wünschen.» In ihr sei eine Leidenschaft erwacht, «ich wusste, das will ich auch machen».
In der Ehe mit einem Italiener wird es der gelernten Diätköchin und Patissière bald einmal zu eng. Nach 15 Jahren lässt sich Gerda Ricci scheiden. Sie startet als alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern ein neues Leben und versucht die Familie mit Jobs als Spitex-Angestellte über Wasser zu halten. 1991 eröffnet sie eine esoterische Boutique mit Edelsteinen, Schmuck und Räucherstäbchen.
Doch die Geldnot wird grösser und treibt Gerda Ricci schliesslich in ein Bordell und damit in ihr Wirken als Domina. «Die Arbeit als Prostituierte im Puff wurde mir bald zu eng, meine Fantasien sprengten den Rahmen des Bordellbesitzerpaares.» Gerda Ricci wollte frei, wollte ihre eigene Chefin sein.
Handschellen, High Heels
So wurde aus der Not eine Tugend, aus einer geheimen Leidenschaft ein lukratives Geschäft. 1998 eröffnete sie in der Bieler Altstadt ihren eigenen Salon, «Domina Xena ist erwacht», sagt sie und lacht ihr tiefes, rauchiges Lachen. Der Name Xena, erklärt sie, beziehe sich auf die Fantasyserie aus den Neunzigerjahren, «Xena, die Kriegerprinzessin, das passt zu mir». Sie habe nicht lernen müssen, wie man Domina sei. «Ich konnte das einfach. Weil es aus einem sexuellen Bedürfnis heraus entstanden ist und weil ich die Fantasien der Männer immer respektiert habe.»
Die Fantasien. Sie sind so unterschiedlich wie die Männer selber, und doch tauchen immer wieder dieselben Elemente auf. Schmerz ist ein fester Bestandteil, seelischer wie physischer. Gefesselt, gequält, erniedrigt zu werden, bereitete Xenas Kunden die grösste Lust. Einige standen auf Elektroschocks, andere auf Handschellen und Peitschen, ganz viele darauf, sich Frauenkleider anzuziehen, in High Heels oder auf allen vieren durch den Salon der Domina zu gehen, demütig und unterwürfig. Meine «Fiffis», sagt sie, ihr Blick schweift ins Leere ab. Von den Männern liess sich Gerda Ricci «Herrscherin» oder «Meine Gebieterin» nennen.
Der älteste «Sklave» war über 80 Jahre alt. Er wollte Strümpfe und Stöckelschuhe anziehen. «Mich haben die Fantasien nie überrascht», sagt Gerda Ricci. Was war denn der krasseste Wunsch? Sie lacht wieder ihr schallendes Lachen. «Für mich ist nichts krass.» Aber unangenehm seien die Telefonanrufe gewisser Männer gewesen, sie belästigten Gerda, wollten ihr Haussklave sein. Sie sind in eine Abhängigkeit geraten, haben sich teils vielleicht sogar verliebt.
Macht und Ohnmacht
In einer gefährlichen Situation habe sie sich nie befunden, nie habe sie in ihrem Dominasalon Angst gehabt. «Ich war immer die Stärkere.» Es gehe ja immer um Macht und Ohnmacht: «Und ich habe lieber Macht.» Es habe ihr immer gefallen, über die Männer zu bestimmen.
Es muss mit Gerda Riccis Geschichte zu tun haben. Auch wenn sie nicht oder nur knapp darüber sprechen will, man wird den Verdacht nicht los, dass ihre Arbeit als Domina auch etwas mit Rache und Selbstschutz zu tun hat. «Klar habe ich Schlimmes erlebt mit gewissen Männern als Kind und junge Frau.» Insbesondere in der Ehe, in der Familie ihres Ex-Mannes, sei sehr vieles schiefgelaufen. «Irgendwann habe ich einfach realisiert, dass viele Männer pervers sind. Und es kann schon sein, dass ich mich durch meinen Beruf lieber gleich in die stärkere Position gebracht habe, damit mir gar nichts passieren kann.»
Sex ist für sie Power, ist Urkraft, eine nicht zu vernachlässigende Quelle der Freude und Gesundheit. «Viele meiner Kunden haben zuvor alles probiert: Sport, Psychiater, neue Hobbys, doch sie blieben frustriert und krank. Dann kamen sie zu mir und waren dermassen erlöst und befriedigt, dass sie kaum aufhören konnten, mir zu danken.»
Der erste Schritt der «Erlösung», wie sie sagt, passiere über die Sprache. «Ich musste den Männern ihre Zunge lösen. Sobald sie über ihre geheimen Fantasien sprechen konnten, war der Bann gebrochen.» Manchmal brauchten die Männer mehrere Besuche, um über ihre Wünsche sprechen zu können. Zwischen einem ersten Telefonanruf und dem Besuch im Salon konnte auch mal mehr als ein Jahr vergehen – «viele hatten schlicht Angst vor sich selber».
Grossmutter und Autorin
Seit einigen Jahren ist Gerda Ricci pensioniert. 2006 wurde sie erstmals Grossmutter, heute hat sie drei Enkelkinder. Ihr Studio in der Bieler Altstadt existiert nicht mehr, das ganze Sexspielzeug hat sie entsorgt. Bis auf ein paar Lackstiefel und High Heels, und in einer Ecke ihrer kleinen Wohnung steht noch eine Kiste mit Utensilien: Dildo s, ein Elektroschockgerät, eine Peitsche, alte Fotos.
In Biel kennt Gerda Ricci alle, alle kennen sie. Lady Xena war ein Stadtoriginal, Gerda ist es auch. Wo sie auftaucht, wird sie gegrüsst, auch mal zu einem Kaffee eingeladen. Viele kennen ihre Geschichte. Gerda hat sie aufgeschrieben, vor Jahren schon. In einer dünnen, eigens kreierten Autobiografie berichtet sie schonungslos aus ihrem Leben als «Kriegerprinzessin». Das Buch hat sie Passanten auf der Strasse verkauft – «aber viele können das nicht lesen. Es ist zu krass, vor allem für Frauen».
Gerdas Weg: steil, steinig, aber ehrlich. Würde sie es nochmals so machen? «Ja. Aber ich würde schon viel früher damit beginnen.» Sie rasselt mit dem Schlüsselbund. Trommelt mit ihren roten Fingernägeln auf die Tischplatte. Sie sind das Einzige, was Gerda Ricci aus ihrem Leben als Xena geblieben ist.
Simone Lippuner, Berner Zeitung